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Die Puppen sind anklickbar!
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Mit den Stimmen der Regierungskoalition und der CDU/CSU hat der Deutsche Bundestag einen Entwurf zur Änderung des Versammlungsgesetzes angenommen. Die
deutschen Juristen haben es vermutlich
nicht leicht gehabt, eine Fassung des neuen Gesetzes zu finden,
die zwei unabdingbare Aufgaben
erfüllt. Erstens, die Neonazis daran hindert,
ihr Unwesen auf der Straße zu treiben. Zweitens aber, das
Demonstrationsrecht im Kern
nicht antastet. Der
vom Bundestag gebilligte Entwurf scheint, beiden Anforderungen zu genügen.
Er definiert die
Situationen, in denen die Polizei
einschreiten muss.
Es sind Versammlungen und Aufmärsche mit dem Ziel, die
nationalsozialistische Diktatur zu verherrlichen und ihre Opfer zu
verunglimpfen. Vor allem derartige
Veranstaltungen in der Nähe von Opfergedenkstätten. Andererseits
sichert der Entwurf
dem Bürger zu, der auf die
Straße will, um für seine verfassungskonformen Ziele einzutreten,
dass er vom Gesetz
gedeckt ist. Jede Bürgergesellschaft braucht diese Gewissheit. Somit
ist der Entwurf ein wichtiger Beitrag zur
demokratischen Gesetzgebung in Deutschland. Und nicht nur in
Deutschland. Einem
russischen Journalisten sagt der Gesetzentwurf
besonders zu, weil
er einen wirksamen Schutz der russischen
Soldatenfriedhöfe in Deutschland ermöglicht. Auf deutscher Erde stehen
bekanntlich mehrere Hunderte Denkmäler
für die 1945 gefallenen sowjetischen
Soldaten. Angefangen
von prächtigen Ensembles bis zu rührenden, schlichten Grabstätten.
Sie erinnern an die Opfer, die Russland
bringen musste, um sich selbst zu retten, aber auch
Deutschland vor der Hitlerdiktatur zu
erlösen. Als die russischen Truppen aus Ostdeutschland
in die Heimat zurückgeführt wurden, verpflichtete sich die
deutsche Seite, die Denkmäler zu schützen. Darüber hinaus ist es eine
hohe moralische Pflicht Deutschlands. Ihre
Wahrnehmung zeugt
von einem Land, das sich
seiner schwierigen Geschichte in einer beispielhaften Weise stellt. Und
daraus seine Entschlossenheit herleitet, konsequent für
Frieden und Vertrauen in Europa
einzutreten. Zwar
erwähnt der vom Bundestag gebilligte
Entwurf expressis verbis die sowjetischen Denkmäler als schutzwürdige Objekte nicht.
Aber seine ganze Logik
schließt auch das ein. Jetzt ist es wohl
Sache der Bundesländer, in deren Kompetenzbereichen Erhalt und
Schutz der Denkmäler liegt,
mit entsprechenden Bestimmungen dafür
zu sorgen. Allerdings ist kein Regelwerk imstande, alle Eventualitäten vorauszusehen. Deswegen ist die an die deutsche Öffentlichkeit ergangene Aufforderung eines Urhebers des Entwurfes, Bundesinnenminister Schily, zur beherzten Auseinandersetzung mit der Herabwürdigung der Opfer des Nationalsozialismus höchst angebracht. Insbesondere jetzt, wo sich der sechzigste Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa nähert. Bekanntlich rüsten sich die Neonazis, das Datum auf ihre perverse Weise zu begehen. Scheitern sie, sieht die Welt, dass ihre Existenz in Deutschland ein Nonsens ist. Andernfalls gelingt es ihnen ein übriges Mal, einen braunen Fleck auf die Weste eines Staates zu setzen, dessen Entstehung auch den Gefallenen im Kampf gegen Hitler zu verdanken ist. Wollen wir hoffen, dass dies nicht passiert. 14.3.05 -----------
WODKA- REISE Diese absolvierte in meinem, der Reisepuppe Auftrag, das führende Mitglied und Sorgenkind unseres Teams, Iwan Matrjoschkin, Esq. Die Reise führte ihn nach Moskau, wo eine den Nationalgetränken gewidmete Ausstellung stattfand. Darunter der Wodka, seit 500 Jahren das russische Nationalgetränk. Nach der Rückkehr des Esquires führte ich mit ihm ein Interview. 1. Wird in Russland weiterhin viel Wodka getrunken, obwohl der russische Markt den Konsumenten jetzt alle möglichen anderen Getränke anbietet? I.M., Esq.,: Gott sei Dank, bleibt Wodka außer Konkurrenz . In einem Jahr wird in Russland bedeutend mehr als eine Milliarde Liter Wodka produziert.. 2. Man sagt, dein Freund Putin sei fast Abstinenzler. Im Unterschied zu dir, Iwan. Versucht er denn nicht, den Russen die Lust auf Wodka auszutreiben? I.M.,Esq.,: Mein Freund ist ein weiser Staatsmann. Er weiß, dass seit fünfhundert Jahren alle Versuche, den Russen die Lust auf Wodka zu nehmen, das Gegenteil bewirkten. Als der Limonadenmischa, in Deutschland Gorbi genannt, in den ersten Jahren der Perestroika die Wodkaproduktion drosselte, beschäftigte sich das ganze Land damit, Wodka selbst zu brennen. Außerdem bringt die Besteuerung der Wodkaproduktion dem Staat sechzig Milliarden Dollar jährlich. Mehr bringt nur die Erdölausfuhr. Aber sogar in Russland sind die Erölvorräte begrenzt. Die Wodkaherstellung kennt im Prinzip keine Grenzen. Notfalls werden die Russen Wodka aus Holzspänen produzieren. 3. Warum haben die Russen ihren Wodka so gern? I.M.,Esq.,: Weil der Wein und das Bier Getränke von Individualisten sind. Das heißt, sie isolieren den Trinkenden von seinen Mitmenschen. Zwar habe ich versucht, in meiner Stammkneipe „Sonnenschein“, Berlin, Prenzlauer Berg, den Bierkonsum so zu gestalten, dass er die Stammgäste zusammenbringt. Aber nicht jeder Kneipe steht ein Iwan Matrjoschkin, Esq., zur Verfügung. Schauen Sie in eine typische Berliner Biergaststätte hinein. Jeder Besucher sitzt für sich allein, schwermütig und stumm, sinniert über die Unvollkommenheit der Welt oder, noch schlimmer, über Hartz IV. 4. Lieber Kollege Matrjoschkin, nicht danach habe ich Sie gefragt. Ich wollte wissen, warum die Russen den Wodka allen anderen Getränken vorziehen. I.M.,Esq.,: Weil der Wodka umso besser schmeckt, je mehr Leute zusammensitzen, sich immer wieder sto Gramm gönnen, die Gläser mit einem Schluck leeren und dabei intensiv kommunizieren. Auch wenn es vorher Unbekannte sind, die zusammenkommen, um eine Flasche Wodka zu kippen, werden sie danach bis zum Lebensende zu besten Freunden. 5. Aber wer Wodka trinkt, muss auch Sakuska haben. I.M.,Esq.,: Unbedingt, sonst liegt er sehr bald unterm Tisch. Immerhin mindestens 40 Prozent reiner Alkohol. Damit man trotzdem fit bleibt, muss man natürlich nach jedem Gläschen viel essen. Am besten Fettes. Ich würde Sülze mit Meerrettich, Schweinebraten mit Kartoffeln und Fisch in Aspik empfehlen. Dazu selbstverständlich Salzgürkchen, marinierte Pilzchen, Salzhering mit Zwiebeln. Da bleibt man bis zum nächsten Morgen lustig, freundlich und auf den Beinen und hat sogar noch Kraft genug, selbst in eine Ausnüchterungszelle zu wandern. 6. Zurück zur Moskauer Ausstellung. Was war Ihr Hauptereignis? I.M.,Esq.,: Natürlich das Erscheinen meiner Wenigkeit bei der Vernissage. Ich wurde von allen Besuchern stürmisch begrüßt. 7. Kennt man dich etwa als Allroundexperte für alle Fragen der Weltpolitik und Weltwirtschaft? I.M.,Esq.,: Das vermutlich auch. Aber am meisten bin ich als Namensgeber und Pate des besten Wodkas der Welt, „Wodka Matrjoschkina“, bekannt. Die Vernissage-Gäste brachten mir eine Halbliterflasche auf einem silbernen Tablett und bestanden darauf, dass ich sie leere. 8. Bist du ihnen entgegengekommen? I.M.,Esq.,: Selbstverständlich. Doch alle anderen Angebote lehnte ich ab. Ich sagte, kein Gramm mehr. Obwohl ich auf viele Dutzende Flaschen mein Autogramm schreiben musste. PS. „Wodka Matrjoschkina“ ist exklusiv. In Berlin nur in der Gaststätte des Hotels Kempinski am Kurfürstendamm zu haben.
31.1.05 --------- EINE
REISE NACH TUWA. VOR 50 JAHREN Die
hier veröffentlichte Reisenotizen erhielt Matrjoschka von einem
russischen Journalisten, der vor 50 Jahren in dem exotischsten
Landesteil der Sowjetunion gearbeitet und gelebt hat. x x x 1. In der
Sowjetunion bekam jeder einen Arbeitsplatz. Von dem einzigen
Arbeitgeber, dem Staat, zugewiesen. Der Staat kümmerte sich auch um
Hochschulabsolventen. Mit dem Studium fertig, mussten sie vor einem
Ausschuss antreten. Hier fiel die Entscheidung darüber, wo ein
Absolvent eingesetzt werden sollte. Dort, wo er selbst und seine Angehörigen
lebten, oder ganz woanders, in einem Betrieb seiner Wahl oder in einem,
der ihn ankotzte. Widerspruch gab es nicht. Auch
wir, die ersten in der Sowjetunion universitär ausgebildeten
Journalisten, erhielten zugewiesene Arbeitsstellen. Die einen in einer
Großstadtzeitung oder an einem großen Sender. Die anderen, die
gleichzeitig mit der universitären Ausbildung eine ganz andere genossen
hatten, durften ins Ausland. Als Korrespondenten eines Massenmediums,
gleichzeitig aber als Vertrauenspersonen einer ganz anderen
Arbeitsstelle. Der Spionagebehörde. Die
dritten mussten sich mit der Anstellung in einer Provinzzeitung
zufrieden geben. Schlechter
als alle Kommilitonen habe ich abgeschnitten. Ich wurde ans Ende der
Welt geschickt. An die mongolische Grenze. Nach Tuwa. Vor
1944 existierte die Republik Tuwa als ein formell unabhängiger Staat.
In Wirklichkeit war es ein sowjetisches Protektorat. Tuwa hatte zwei
Botschaften im Ausland, eine in Moskau und eine in Ulan-Bator, in der
Mongolei. 1944 erfolgte der Anschluss an die Sowjetunion. Tuwa
liegt zwischen den Ausläufern des Sajan-Gebirges, am Oberlauf des
gewaltigen sibirischen Stromes Jenissej. Die Verbindungen zur Außenwelt
sind durch eine hohe, ringförmige Bergkette erschwert. Acht
Tage dauerte die Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn. Drei weitere
Tage die Autoreise von der nächsten Eisenbahnstation Abakan bis zur
tuwinischen Hauptstadt Kysyl. Eigentlich war der Weg dahin nur 650
Kilometer lang. Aber er führte über die unwegsame Gebirgsgegend. Der
Laster, der mich und mein Gepäck mitnahm, hatte dauernd Panne. Der
Fahrer besoff sich dauernd. Die Fahrleistung, am ersten Tag stolze 350
Kilometer, sank auf 80 Kilometer am letzten Tag. Und in Kysyl wurden wir
feierlich von einem Traktor reingeschleppt. Meine
Wohnung lag neben dem städtischen Stromwerk. In seinem Hof stand eine Säule
mit der Aufschrift: "Zentrum Asiens". Gemeint war der
geometrische Mittelpunkt. In jeder anderen Hinsicht war Kysyl kein
Zentrum, auch nicht in Asien. Im Gegenteil: ein richtiger Krähwinkel. Obwohl
die Stadt vierzigtausend Einwohner hatte, die Hälfte der Bevölkerung
der Autonomie, gab es nur zwei moderne, mehrstöckige Häuser. In einem
war die Gebietsverwaltung der Stasi, im anderen das Parteikomitee
untergebracht. Sonst nur einstöckige Häuschen mit flachen Dächern. In
dem extrem trockenen, kontinentalen Klima hätten Giebeldächer keinen
Sinn. Wohl
nirgendwo in der Sowjetunion kam das zwanzigste Jahrhundert weniger zum
Zuge als hier. Als ich einem tuwinischen Hirten beschrieb, wie eine
Badewanne aussieht und wozu sie gut ist, lachte er wie Kind. Er hat nur
in Seen und Flüssen gebadet und auch das äußerst selten. Und wenn er
mal musste, erledigte er das Geschäft ausschließlich in der freien
Natur. Trotzdem
kamen in Kysyl zwei Tageszeitungen heraus. Dem Umfang nach genau den
anderen in der Sowjetunion gleich. Auch in Regionen mit einer
tausendfach größeren Bevölkerung waren die Zeitungen nicht größer. Die
Zeitung, bei der ich anfing, hieß "Tuwinskaja prawda". Es war
eine russischsprachige Zeitung. Sie hatte höchstens fünfhundert Leser.
Beamte, Fachleute, Lehrer russischer Herkunft. Die
russische Gemeinde in Tuwa war aber viel größer. Die meisten gehörten
einer Sekte an, nach deren Regeln nur die Bibel gelesen werden durfte.
Die Ahnen der Sektenmitglieder, verfolgt von der orthodoxen Kirche,
waren ein halbes Jahrtausend davor nach Tuwa geflohen. Die Nachfahren
bewahrten die Sitten. Die
andere Zeitung erschien in Tuwinisch und hieß "Schyn", was,
wie das Wort "prawda" im Titel der russischsprachigen Zeitung,
Wahrheit bedeutete. Die Prawda auf tuwinisch hatte noch weniger Leser
als die auf Russisch. Die Tuwiner brauchten keine Zeitung. Ihr Horizont
reichte nicht weiter als ihre Schafweiden. Auch
wenn die Zeitungen kaum Leser hatten, erschienen sie regelmäßig und
niemand dachte an ihre Einstellung. Das
Pressewesen der Sowjetunion wurde zentral geregelt und zentral
finanziert. Die sowjetische Nationalitätenpolitik erforderte, dass
jeder Landstrich mit gemischter Bevölkerung zwei Zeitungen hatte. Eine
russischsprachige und eine in der Muttersprache der Ureinwohner. Nicht
nur das Pressewesen musste entsprechend dem Grundsatz der
Gleichbehandlung aller Völker der Sowjetunion gestaltet werden. Auch
das Theaterwesen zum Beispiel. Deswegen hatte das einzige Theater in
Kysyl zwei Schauspielertruppen, eine russische und eine tuwinische. Zu den
russischen Aufführungen kamen einige Dutzende Zuschauer. Zu den
tuwinischen kam niemand. Peinlich. Das Gebietskomitee der
Kommunistischen Partei, die eigentliche Regierung der Republik,
vereinbarte mit dem Kommandeur der in Tuwa stationierten Grenztruppe,
dass zu den tuwinischen Aufführungen dienstfreie Soldaten beordert
wurden. Die russischstämmigen Soldaten verstanden kein einziges auf der
Bühne gesprochenes Wort. Dennoch freuten sie sich auf die
Theaterbesuche. In dem gut geheizten Zuschauerraum ließ es sich ruhig dösen. Der
Redaktion mangelte es an Lesestoff. Wir wussten nicht, worüber wir
schreiben sollten. Eigentlich gab das exotische und eigenartige Tuwa
eine Menge Stoff her. Aber wir durften nur über die Errungenschaften
des Sozialismus schreiben. Bei aller Fähigkeit, diese aus dem Finger zu
saugen, hatte Tuwa wenig Errungenschaften aufzuweisen. Allerdings
hieß es offiziell, Tuwa hätte den großen Sprung vom frühen
Feudalismus über den Kapitalismus hinweg zum entwickelten Sozialismus
vollzogen. Tatsächlich blieb es ein Refugium der Nomaden, die keine
Ahnung von verschiedenen Ismen hatten. Die
Zeitung hatte Ressorts wie jede andere. Für Parteileben, Tätigkeit der
Verwaltung, Kultur, Industrie und Landwirtschaft. Landwirtschaft
gab es in Tuwa, Industrie nicht. Abgesehen von einer kleinen Schneiderei
und einer primitiven Autoreparaturwerkstatt in Kysyl. Ich wurde dem
Industrieressort der Zeitung zugeteilt. Dieses sollte täglich
dreihundert Zeilen über das Geschehen in den tuwinischen
Industriebetrieben liefern. Angesichts
des erwähnten Entwicklungsstandes der tuwinischen Industrie keine
leichte Aufgabe. Mein
Erstlingswerk galt der Näherei. Ich brachte es fertig, eine ganze
Zeitungsseite darüber zu füllen, wie die Näherinnen Garn sparten. Die Veröffentlichung
fand großen Beifall im Parteikomitee. Wegen der Aktualität, denn in
der Sowjetunion lief gerade eine von der Partei angeordnete
Einsparungskampagne in der Industrie. Überall in der sowjetischen
Industrie sollte an allem gespart werden. Auch in der Industrie von Tuwa. In den
zwei großen Häusern in Kysyl, wo Politik gemacht wurde, galt der
oberste Grundsatz: bei uns läuft alles wie bei den anderen. Tuwa sollte
anderen Gebieten der Sowjetunion angeglichen, die Tuwiner sollten
gleichgeschaltet werden. Ohne Rücksicht auf Verluste. Aus
diesem Grund wollte der Staat die nomadisierenden Tuwiner sesshaft
machen. Vor allem wollte das die Staatssicherheit. Das Hirtenvolk entzog
sich ständig ihrer Obhut. Heute hier, morgen dort. Mal musste man einen
im Tal der Hinkenden Bärin, mal in der Schlucht der Drei Tannen suchen.
Das ging nicht. Keine Ordnung. Auch
die Parteiführung hätte die Bevölkerung gern sesshaft gesehen. Das
passte besser zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Die Viehzüchter
aber wollten nicht sesshaft werden. Ihre Vorfahren waren immer schon
Nomaden. Die tuwinische Natur erforderte Nomadenviehzucht. Hier gab es
keine Flusswiesen, wo Gras für den Winter gemäht werden konnte. Es gab
nur Weiden. Hatte eine Schafherde eine Stelle abgeweidet, wurde sie
weitergetrieben. Die Jurte zusammengelegt, Ochsen oder Kamelen
aufgebunden und ab ins nächste Tal. Die
Sesshaftigkeit behagte den Hirten auch aus einem anderen Grund nicht.
Schon in den vierziger Jahren wurde ihr Vieh von der zentralen Behörde
aufgelistet. Allerdings nur ein Teil, den anderen konnten die Hirten in
den Bergen verstecken. Als Sesshafte hätten sie die Verstecke
preisgeben müssen. Die
Sowjetmacht versuchte ihr Bestes. Traktoren rollten in die Täler,
Neuland wurde gepflügt, Kartoffeln wurden gepflanzt. Die Tuwiner aber
wussten nicht, dass nur die Knollen gegessen werden durften. Sie aßen
das Kartoffelkraut. Manche bekamen Durchfall. In der Steppe verbreitete
sich das Gerücht, die Russen wollten die Tuwiner mit Kartoffeln
vergiften. Russische
Bauarbeiter kamen in die Steppe, um Holzhäuser für die Nomaden zu
bauen. Nach Vorlagen, die in Moskau ausgearbeitet worden waren und Häuser
mit spitzen Dächern wie in Mittelrussland vorsahen. Die Tuwiner aber,
unter dem ewig wolkenlosen Himmel groß geworden, wollten die Häuser
nicht haben. Das
tuwinische Haus besteht aus Lehmmauern und einem flachen Dach. Darin ist
es im Sommer kühl und im Winter warm. Wie in der Jurte. Die
Hirten stellten ihre Jurten neben den Häusern auf und blieben in den
Lederhütten. Die Obrigkeit ordnete die Sicherstellung der Jurten an.
Die Tuwiner nahmen das der Obrigkeit sehr übel. Äußerlich
gaben sie sich untertänig. Sie waren ja immer unterdrückt. Von
mandschurischen und mongolischen Fürsten, russischen Beamten. Auch von
russischen Kaufleuten, die Pelze und Wolle gegen Wodka, Flinten, Pulver
und Messer eintauschten. Die Tuwiner waren bei russischen Kaufleuten ständig
verschuldet. Das russische Wort "Torgasch", Händler,
verwandelten sie in "Targa",Chef. Zuerst
wunderte ich mich darüber, wie servil und schüchtern sich die Tuwiner
gaben, besonders die alten. Wurden sie angesprochen, falteten sie die Hände
überm Bauch, verbeugten sich und wiederholten: ja, Targa, ja, Targa. Die
Demut, wenigstens nach außen hin, war hier Tradition. Auch von der
Religion vorgeschrieben. Tuwiner waren Lamaisten. Wie die Tibeter. Als ich
nach Tuwa kam, gab es allerdings keine Tempel und keine Priester mehr.
Lange davor wurden die Tempel dem Boden gleichgemacht, die Priester
ermordet oder verjagt. Das besorgte die Revolutionäre Volkspartei von
Tuwa, geführt von Soltschak Kalbakghoregowitsch Toka, dem Führer des
tuwinischen Volkes. Bereits vor der Eingliederung Tuwa in die
Sowjetunion sollten die Tuwiner zu Atheisten und Kommunisten werden. Später,
als ich aus dem Industrieressort der Zeitung in das Ressort Parteileben
wechselte, besuchte ich oft tuwinische Kommunisten. Ich betrat eine
Jurte und fragte den Familienvater, ob er ein Parteimitglied sei. Er
dachte angestrengt nach und bejahte schließlich die Frage. Ich bat, das
Parteibuch zu zeigen. Er kramte irgendwo in der Ecke. Das Parteibuch kam
zum Vorschein. Mit Leninbild auf der ersten Seite. Wer ist da
abgebildet? Schweigen. Die schwarzen Augen teilnahmslos, das breite,
faltige, dunkle Gesicht unbeweglich, als wäre der Mensch ins Nirwana
versunken. Wie heißt denn die Partei? Kein Wort, keine Bewegung. Prozentuell
hatte Tuwa trotzdem mehr Kommunisten als Zentralrussland. Allmählich
kam ich dahinter, dass ihre Demut nur eine Maske war, hinter der sich
Verachtung für die Fremden verbarg. Und Trotz. Deswegen wohl brannten
die von den Russen erbauten Häuser immer öfter ab. Die meisten Brände
waren sicher unbeabsichtigt, da die an offenes Feuer gewöhnten Tuwiner
den Umgang mit Öfen nicht lernten. Es gab aber auch Brandstiftungen. Die
Feuerbrünste in tuwinischen Siedlungen verursachten im
Gebietsparteikomitee und bei der Staatssicherheit viel Kopfzerbrechen. Maßnahmen
waren fällig. Um die
Zeit rollte über die Sowjetunion eine neue Terrorwelle. Wieder einmal
wurde nach Agenten des Weltimperialismus gefahndet. In der Regel fand
man sie unter den Juden. In Tuwa
gab es keine Juden. Also mussten die Agenten des Imperialismus unter den
Tuwinern gefunden werden. In
wenigen Tagen kamen einige Dutzend Tuwiner in Haft. Meistens
Apparatschiks, mit denen die Chefs unzufrieden waren. Sie wurden
beschuldigt, Brandstiftungen angezettelt zu haben. Das genügte
aber nicht, um die Übeltäter richtig zu verteufeln. Also wurde ihnen
noch Verschwörung angehängt. Angeblich hatten sie vor, Tuwa an Japan
zu verkaufen. Warum
ausgerechnet an Japan? Mit China und der Mongolei pflegte die
Sowjetunion damals dicke Freundschaft. Alle übrigen Länder Asiens
galten als Opfer des Imperialismus. Blieb nur Japan. Zwischen
Tuwa und Japan liegen mehrere tausend Kilometer. Die Verhafteten hatten
keinen blassen Schimmer von Japan. Doch wen kümmerte das? Die
Ermittlungen begannen, geleitet vom Staatsanwalt des Gebiets. Tuwa
sollte seinen eigenen Schauprozess haben. Doch
der Prozess fand nicht statt. Völlig unbeabsichtigt verhinderte ich
seine Durchführung. 2. Hundert
Kilometer von Kysyl gibt es einen tiefen See. Er heißt Tschagatai. Ein
Tummelplatz für Hechte. Einige so groß wie Baumstämme. In der
warmen Jahreszeit fuhren samstags Autos mit Anglern aus Kysyl zum See.
Nur Russen aus den großen Häusern. Tuwiner
angelten nicht. Sie aßen keinen Fisch, sondern nur das, was Viehzucht
und Jagd brachten. Fisch galt bei ihnen als unsauber, nicht koscher. Die
Russen, passionierte Fischesser und Angler, lachten darüber. Eines
schönen Tages saß ich zusammen mit dem Staatsanwalt von Tuwa in einem
Boot. Wir angelten Hechte. Ich wollte den Blinker besonders weit werfen
und holte mit meiner Wurfangel aus. Die Angelschnur verhedderte sich
aber und das schwere Bleigewicht traf den Staatsanwalt mit voller Wucht
am Kopf. Der Mann sackte blutüberströmt zusammen. Hilfeschreiend
ruderte ich zum Ufer. Der Staatsanwalt wurde ins Krankenhaus gebracht.
Er musste einige Wochen das Bett hüten. Die Ermittlungen stockten. Bald
danach starb Stalin. Seine Vertrauten im Geheimdienst wurden
hingerichtet. Innenpolitische Entspannung kehrte ein,
"Tauwetter" genannt. Auch in
Tuwa änderte sich das politische Klima. Die Verhafteten kamen frei. Es
hieß, die Ermittlungsrichter hätten sich geirrt. Keiner wollte Tuwa an
Japan verkaufen. Eigentlich
sollten die Chefs von Tuwa mir dankbar sein. Indem ich den Prozess, wenn
auch zufällig, verhinderte, ersparte ich ihnen Unannehmlichkeiten. Aber
Dankbarkeit war für sie ein Fremdwort. Sie nahmen mir das ungewollte
Attentat übel. Ich wurde vor den Ersten Sekretär des Parteikomitees
von Tuwa zitiert. Das bedeutete in der Regel die Vorstufe einer schweren
Maßregelung. Ich
betrat ein riesiges Dienstzimmer. Hinter dem Parteisekretär Toka hing
das Bild Stalins in der Uniform des Generalissimus. Auf dem Tisch lag
neben meiner Akte noch eine Stalindarstellung, ein gusseisernes
Basrelief. Also...,-
begann Toka und begleitete seine Worte mit leisem Klopfen auf das
Basrelief. Daß du ein Abweichler bist, ist mir klar, aber ob ein
rechter oder linker, ist mir noch nicht klar, aber ich finde es heraus. Genosse
Toka, ich bin kein Abweichler, sagte ich Verfasser beschwichtigend.
Weder ein rechter noch ein linker. Es war ein Unfall! Das
werden wir noch sehen, grollte Toka. Das finden wir noch heraus. Aber
aus Moskau wehte weiterhin frischer Wind. Auch die Ermittlungen über
das Attentat auf dem Tschagatai-See fielen ins Wasser. Einige
Wochen nach ihrer Einstellung hatte ich dienstlich in der Siedlung
Kaa-chem zu tun. Dort stieg ich im Gästehaus des Kreisparteikomitees
ab. Andere Gästehäuser als die der Partei gab es nicht in Tuwa. Es war
ein gewöhnliches Wohnhaus. In einem Zimmer hauste das Personal - die
Verwalterin und die Putzfrau. In den anderen wohnten Gäste,
Dienstreisende aus Kysyl. Am späten
Abend hörte ich im Nebenzimmer schreckliches Röcheln. Es klang, als würde
jemand gewürgt. Ich lief hinaus und stieß mit dem Fuß die Tür des
Nebenzimmers auf. Im Bett krümmte sich ein Mann. Es war Toka, der
Parteisekretär. Was ist
los, rief ich aufgeregt. Toka
machte die Augen auf, unter dem Kopfkissen zog er eine Pistole hervor.
Jetzt passiert's, dachte ich. Jetzt schießt er mich, den Attentäter,
über den Haufen. Toka
kam zu sich und erkannte mich. Er
klagte über Alpträume und Herzschmerz. Ich wollte einen Arzt holen. Er
winkte ab und lud mich zu einer Flasche Sekt ein. Am
Tisch erzählte er, er wäre in die Siedlung Kaa-chem gekommen, um den
ersten Kreissekretär der Partei abzusetzen. In dessen Haus wollte er
nicht übernachten. Nach tuwinischer Sitte bindet Gastfreundschaft.
Darum nahm er mit dem schäbigen Gästehaus Vorlieb. Ich
wollte gehen, er ließ es nicht zu. Anscheinend hatte er Angst allein zu
bleiben. Er holte aus dem Koffer noch ein Flasche Sekt. Bis spät
in die Nacht erzählte er aus seiner Kindheit. Über seine Eltern.
Einfache Viehzüchter. Nomaden. Er
erinnerte sich an den warmen Geruch der Schafherden, daran, wie frischer
Käse und Kamelmilch schmeckten. An die Hunde, mit denen er zusammen in
der Jurte am Feuer schlief. An sein erstes Reitpferd, seine erste Jagd.
An die erste Liebe. Er
erinnerte sich an das zurückliegende Leben, das er in seinen Reden und
Zeitungsbeiträgen als die düstere Zeit des Feudalismus verdonnerte.
Nostalgisch klangen diese Erinnerungen. Ich
flocht ein, ich hätte Tokas autobiografische Novelle "Das Wort des
Hirten" gelesen... Meine?
Als ob du nicht weißt, wie Literaturwerke erster Sekretäre produziert
werden. Und wer sie produziert, fügte er hinzu. Ich
wusste es, hatte ich doch selbst als Student daran mitgeschrieben, um
mein Stipendium aufzubessern. Nicht
der Erste Sekretär des Gebietsparteikomitees, nicht ein Mitglied des
stalinschen Zentralkomitees, nicht der erbarmungslose Kämpfer gegen
Abweichler aller Schattierungen saß vor mir, sondern ein alter,
untersetzter, krummbeiniger Tuwiner mit faltigem Gesicht und kleinen
schwarzen Schlitzaugen. Ein alter, müder, vielleicht kranker Mann. 3. Ich weiß
nicht, ob Toka schreiben konnte, reden konnte er jedenfalls. Deswegen
wurde er auch als junges Parteimitglied nach Moskau zur Kommunistischen
Hochschule für Werktätige des Orients abkommandiert. Sein Mentor war
der Sprachforscher Alexander Palmbach, Fachmann für mongolische
Sprache. Palmbach gehörte zu den Deutschstämmigen. Er war nur vier
Jahre älter als Toka. Der
junge Tuwiner und der Deutsche wurden Freunde. Palmbach lernte das der
mongolischen Sprache verwandte Tuwinisch. Er begründete das tuwinische
Schrifttum. Toka besserte sein Russisch auf und lernte ein paar Brocken
Deutsch. 1928 fuhr er sogar nach Berlin zu einer Konferenz der
Kommunistischen Jugendinternationale. Nach
Tuwa kehrte er Anfang der dreißiger Jahre zurück. Schnell erklomm er
den Gipfel der Macht. Unterwegs beseitigte er Rivalen. Palmbach
besuchte Toka in Kysyl. Danach kamen in Moskau Erzählungen ,Theaterstücke
und Gedichte des tuwinischen Volksführers heraus. In Übersetzung von
Alexander Palmbach. In Kysyl erschienen sie in tuwinischer Sprache erst
hinterher. Im
Zweiten Weltkrieg bildete Toka, zu der Zeit der mächtigste Mann in
Kysyl , aus tuwinischen Jägern eine Scharfschützentruppe. Der
tuwinische Jäger trifft das Eichhörnchen und den Zobel ins Auge, damit
das Fell keinen Schaden nimmt. Die Scharfschützen aus Tuwa bewährten
sich an der Front bestens. Stalin
erhielt einen Bericht über ihre Leistungen. Der weise Führer aller Völker
der Welt wurde nachdenklich. Tuwa? Eine unabhängige Republik? Die
Andeutung wurde verstanden. Im August 1944 kam Toka nach Moskau. In der
Tasche das Bittgesuch, Tuwa in die Sowjetunion aufzunehmen.
Unterschrieben von allen Tuwinern. Auch von jener großen Mehrheit, die
nicht schreiben konnte. Auf die
Audienz musste er einige Wochen warten. Stalin wollte die Sache gut überlegen.
Schließlich hatte er Größeres vor, als das gottvergessene Tuwa in die
SU zu holen. Mit der Eingliederung Tuwas die Pferde scheu zu machen,
schien nicht ratsam. Erst
ein Bericht der nach Tuwa entsandten Geologen ließ ihn die Entscheidung
treffen. Er
empfing den Bittsteller. Euer Wille geschehe, sprach er großzügig.
Tuwa wird in die Union aufgenommen. Und er fragte, ob es stimmt, dass
der Landstrich reiche Vorkommen an Gold und Quecksilber hätte. Und auch
an Uranerz? Der
Vater aller Werktätigen fand Gefallen an Toka. Er befahl, ihm für die
autobiografische Novelle "Das Wort des Hirten" den höchsten
Literaturpreis des Landes zu verleihen. 4. Etwa
zehn Jahre später, als ich wieder in Moskau arbeitete, traf ich Toka
noch einmal. Er war Delegierter eines Parteitages, der den Beschluss
fasste, den einbalsamierten Leichnam Stalins aus dem Mausoleum auf dem
Roten Platz zu entfernen. Es hieß jetzt, der Organisator des großen
Terrors hätte es nicht verdient, neben der Lenin-Mumie zu liegen. Toka
gab mir ein Interview über den Parteitag. Er war missgelaunt, Stalin
wollte er nicht erwähnen. Ich bestand auch nicht darauf. Ich wusste,
dass Toka es zu dem Zeitpunkt in Tuwa nicht leicht hatte. Man kreidete
ihm die Unterdrückung und Vernichtung jener Landeskinder an, die es
nicht sehr eilig hatten, den Sprung aus dem Frühfeudalismus in den
entwickelten Sozialismus zu tun. Später,
in den Jahren der Perestroika, berichten Moskauer Zeitungen, es ginge in
Tuwa alles drunter und drüber. Die tuwinischen Viehzüchter hätten
ihre Herden, nach dem Anschluss Tuwas quasi verstaatlicht, wieder
privatisiert. Sie verließen die für sie gebauten Dörfer und zogen
wieder durch die Steppe. Sie verbrannten ihre Parteibücher mit dem
Leninbild und ihre sowjetischen Ausweise mit Hammer und Sichel. Eine
Partei entstand, die ein unabhängiges Tuwa forderte. Ein Gottestempel
wurde gebaut. Bei der Einweihung brachte ein uralter Lama Reliquien, die
er seit 1921 versteckt hielt. Russen
genießen in Tuwa kein Ansehen mehr. Von der Untertänigkeit der Tuwiner
blieb keine Spur. Im Gegenteil: Russen wurden auf den Straßen angepöbelt,
verprügelt, manche ermordet. Viele Russen zogen es vor, sich
abzusetzen. Sie schlossen sich den russischen Flüchtlingsscharen an,
die aus allen Ecken und Enden der ehemaligen Sowjetunion nach Russland,
ins Mutterland zurückkamen. Auch
jene tuwinischen Russen, die sich hier schon vor Jahrhunderten
niedergelassen hatten, um Verfolgungen der mit dem Zarenthron eng
liierten Kirche zu entgehen. Mit der Sowjetisierung von Tuwa hatten sie
nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil: die Sowjetmacht hat ihre, von
russischen Bauernsitten längst vergangener Zeiten geprägte und in Tuwa
gewissermaßen konservierte Lebensweise mit Argusaugen betrachtet.
Trotzdem wurden auch sie von den Einheimischen drangsaliert. Den
Tuwinern kam es nicht darauf an, welche Russen es waren, die Hauptsache
es waren Russen. Allmählich
beruhigte sich die Lage. Die Tuwiner besannen sich darauf, dass aus
Russland nicht allein Schlechtes gekommen war. Jetzt ist ein Tuwiner
namens Schoigu sogar zu einem der mächtigsten Männer im Kreml
geworden. Ihm wird großes Durchsetzungsvermögen bescheinigt. DEM
REISEBERICHT AUS TUWA VOR 50
JAHREN FOLGT JETZT EIN
ANDERER - AUS TUWA IM JAHR
2004: Wollen
Sie sich von der Großstadthektik erholen? Etwas sehr Schönes erleben,
was Sie noch nicht erlebt haben und vielleicht nie mehr erleben können?
Wollen Sie es? Dann packen Sie ihre sieben Sachen und schnell
nach Tuwa. Wie wir es gemacht haben. Zuerst
mussten wir in den Zug Moskau- Abakan. Drei Tage und Nächte mit der
Transsib. In der Zeit ändert sich die Landschaft hinter den Scheiben
gründlich. Die Birkenwäldchen
werden durch
Tannenwälder abgelöst. Dann kommt die Steppe mit Hügeln am Horizont.
Und dann hält der Zug in Abakan. Das ist die Hauptstadt
einer kleinen Republik
in Sibirien. Von
Abakan bis Tuwa ist es nicht weit. 600 km. Das Problem: die müssen
Sie in einem Auto bewältigen.
Die Strasse führt über hohe Gebirgspässe. Das Sajangebirge. So hohe Berge haben wir
nirgendwo gesehen. Und so schöne auch nicht. Am
besten Sie fahren wie wir. Auf einem Lastwagen, der nach Tuwa muss. Zwar
soll es auch Busse geben, aber verlassen Sie sich nicht darauf. Unterwegs
sahen wir Touristen, die nicht mehr wussten, was sie tun sollten.
Ungewaschen und unrasiert, in schmutzigen, zu Lumpen gewordenen
Klamotten, entkräftet und verzweifelt standen sie am Wegrand und
zeigten mit dramatischen Gesten, dass sie mitgenommen werden wollen.
Bereits mehrere Tage warteten sie auf einen Bus. Dahinter
ragten Felsen zum Himmel. Tuwa beginnt nach vier Stunden Fahrt. Es kündigt sich mit den
irrealen Farben der von der Sonne verbrannten Steppe an. Sie spüren
gleich, hier atmet es sich leichter. Sie wähnen
sich auf einem anderen Planeten.
Noch
zwei Stunden – und Sie sind in Kysyl. Im kleinen Städtchen, das einst
der Regierungssitz eines souveränen Staates war. Eines, von dem in
Europa niemand Notiz nahm. Sie
steigen in einem Hotel ab, das ebenfalls „Kysyl“ heißt. Ein
Appartement für zwei kostet hier drei Euro. Wir
packten aus, zogen uns um und gingen spazieren. Auf dem zentralen Platz
eine Sehenswürdigkeit: das Nationaltheater. Ein riesiges
Gebäude mit einem Pagodedach. An der Fassade buddhistische Zeichen.
Eins hat man uns erklärt: es bedeutet Unendlichkeit.
Das
Theater stammt noch aus der Sowjetzeit, als jedes sowjetische Volk ein
blühendes Kulturleben aufzuweisen hatte. Auch das Theaterleben. Ob da
was zu spielen gab, war Nebensache. Die Hauptsache- ein Theatergebäude.
Jetzt
gab es im Nationaltheater ein Konzert unter dem Motto „Die Stimmen des
Sajangebirge“. Gesungen hat allerdings eine mongolische Sängerin,
eine wahre Nachtigall. Es war Kehlgesang,
das nur die Tuwiner und ihre Brüder- die Mongolen kennen. Herrlich! Am
nächsten Tag besichtigten wir ein Monument mit der Aufschrift „Der
geographische Mittelpunkt Asiens“. Geographisch ist Tuwa vielleicht
ein Mittelpunkt. Sonst leider nicht. Leider, weil wir
Tuwa und sein kleines Volk ins Herz geschlossen haben. Neben
dem Monument entdeckten wir noch ein Zentrum. Das Schamanenzentrum. Es
war eine Art Poliklinik, wo mit Tänzen
und anderen Kunststücken der Schamanen geheilt wird. Erfolgreich, wie
uns die Einwohner versicherten. Die
Preisliste ist umfangreich. Sie enthält Leistungen wie die Vertreibung
der bösen Geister, die Suche nach
der verlorenen Seele und die Reinigung der Karma. Unter
fünfzehn Schamanen gibt es Spezialisten für jede Prozedur. Aber
äußerlich erinnern sie eher an Indianer aus alten Hollywoodschinken.
Dieselben Kopfzierden aus bunten Federn und andere einschlägige
Attribute. Unter
der Hand wird erzählt, mancher
Schamane war noch vor 15 Jahren ein kommunistischer Parteifunktionär
oder sogar Geheimdienstler. Die wunderbare Verwandlung bewirkte die
Arbeitslosigkeit. Von
Kysyl reisten wir weiter mit einem Motorboot. Es war
voll von Menschen und Gepäck. Die Reise auf dem Jenissei, der
hier Kaa-Chem heißt, dauerte 10 Stunden. An
der Anlegestelle wartete auf uns ein stinkbesoffener Tuwiner namens
Mergen. Er brachte uns zu einer Touristenherberge. Dort mieteten wir ein
Holzhäuschen. Die Miete betrug pro Nacht 20... Ihr meint wohl Euro?
Nein: 20 Cents. Als
wir erwachten und einen Spaziergang durch das Lager absolvierten, sahen
wir Mergen wieder. Er war nicht zu erkennen, weil nüchtern, gekämmt
und nicht mit einer Flasche, sondern mit einem Buch in der Hand. Es
stellte sich heraus, er war ein Sohn des Direktors der
Touristenherberge. Ein netter Bursche. Nur das „Feuerwasser“, das
die Russen nach Tuwa gebracht hatten, als es dieses einheimsten, bekam
ihm nicht. Allerdings
auch anderen Tuwinern bekam das Wässerchen nicht. Denn früher tranken
sie nur
Araka. Ein
Milchgetränk.
Nicht
aus Kuh- sondern aus der Milch der Jacks.
Es hat nur sieben Prozent Alkohol,
aber ist sehr heimtückisch. Das
musste der russische Ex-Präsident Boris Jelzin erfahren. Als er Tuwa
einen Besuch abstattete, trank er
ein Glas Araka nach dem anderen. Die Gastgeber warnten ihn, er
aber meinte, eine siebenprozentige Araka tut ihm, einem 40- Prozentigen
Wodka gewöhnt, nichts.
Schließlich fiel er wie eine Schnapsleiche um.
Weniger
als die Araka schmeckten uns die tuwinischen Mücken. Sie
pikieren auf ihre Opfer wie winzige „Stukas“ und bohren sich tief in
den Körper ein. In wenigen Sekunden liegen sie auf dem Körper wie eine
zweite angewachsene Haut. Zum
Glück greifen sie nur dann an, wenn man ihr Reich betritt: einen Wald.
Dennoch fällt es einem schwer, auf den Besuch der
hiesigen Wälder zu verzichten. Sie sind voll von Beeren. Allen
Beeren, die wir kennen, und vielen, die uns nicht bekannt sind.
Beerenparadiese.
Wir
blieben nicht lange im Lager. Dann steuerten wir Ersin an. Es
liegt in einer richtigen Wüste an der Grenze zur Mongolei. Hier gibt es
drei Seen. Ein See ist ein Süßwassersee, ein anderer ein Salzwassersee
und der dritte wie das Tote
Meer. Außerdem gibt es hier ein paar Schafhirten und ein komisches
Schild „Erholungszone für
Vögel“. Und sonst nichts. Wir
schlugen unser Zelt am Ufer des Süßwassersees Tere- Chol auf. Unser
Aufenthalt dort könnte ein schlimmes Ende nehmen. Denn
während eines Spazierganges verirrten wir
uns in die Mongolei. Die Mongolen aber schießen ohne Vorwarnung
auf alle, die von der tuwinischen Seite kommen, weil die Tuwiner ihnen
die Pferde klauen. Die
Mongolen klauen den Tuwinern auch ihre Pferde. Aber die Tuwiner
schießen nicht sofort, wenn sie einen Mongolen gewahr werden.
Anscheinend haben sie es nicht vergessen, dass die Mongolen hier einst
das Herrenvolk
waren, die Tuwiner ein Helotenvolk.
MONGUN-
TAIGA Dann
kamen wir zu dem tuwinischen Tibet. Es heißt Mongun-Taiga. Sehr hohe
Berge mit schneebedeckten Gipfeln, Jacks
und dunkelheutigen Ureinwohnern. Mongun- Taiga dürfen Sie nicht
aussparen, wenn Sie schon in Tuwa sind. Es gibt
keinen schöneren Flecken auf
der Erde. Die
Fahrt dauert einen ganzen Tag. Die Straße säumt eine Schlucht.
Erschreckend. Aber man nimmt es hin. Die
Hauptsache: nicht runter blicken. Wir taten
es nicht, denn unsere Begleiter sangen ununterbrochen.
Das waren vier stämmige Burschen mit langen schwarzen Zöpfen.
Wie in chinesischen Filmen. Sie
ermunterten uns mit Kehlgesang oder der Nachahmung wilder Tiere und Vögel. In
Mongun- Taiga nächtigten wir in einer eigenen Jurte. Ein ideales
Zuhause für Nomaden. Um
die Jurta zu bauen, reichten uns zwei Stunden. Ein hölzernes Gerippe
gaben uns die Tuwiner. Auch die Tierhäute und Lappen, die darauf kamen.
Schon steht die Jurte. Schlaf schön. Ach
ja, drinnen hatten wir noch ein Eisenöfchen, das wir mit Jackfladen
heizten. Denn die Nächte wurden kalt.
Am
nächsten Tag erhielten wir eine Einladung zu den Schafhirten. Sie
deckten die Tafel. Jackfleisch, Schafskopf mit Knoblauch, gesalzener Tee
mit Butter. Delikatessen.
Allerdings
schwer verdaulich. Die
Stadt Tschadan besuchten wir auf dem Rückweg. Sie ist ein Staat im
Staate. Die Tuwiner verjagten alle Russen aus Tschadan. Sie sagten uns,
dass die Stadt in den Händen einer Mafia ist. Wer gehört zur Mafia,
wollten wir wissen. Alle,
lautete die Antwort. Jeder hier ist eine Mafia für sich. Zuerst
wollten wir es nicht glauben. Aber am Abend wurden wir von Einheimischen
umkreist. Einer holte ein langes
scharfes Messer und hielt mir die
Spitze in den Bauch. „Hast du Angst? – fragte er. – Warum? Man
darf sich vorm Sterben nicht fürchten“.
Trotz
des Vorfalls sagten wir nicht nein, als zwei
wüst aussehende, halb besoffene Kerle
vorschlugen, uns in
ein nächstes Dorf zu befördern, wo wir uns von den Strapazen der Reise
erholen wollten. Der Preis? Ach wo, haben sie gesagt, bezahlt den
Benzin und das reicht. Unterwegs
holten die Tuwiner immer wieder eine Wodkaflasche irgendwo hervor, aber
es passierte uns nichts.
„Heute sind wir Penner, sagte einer, aber morgen sind wir wieder
Lehrer“. Tatsächlich stellte sich heraus, sie unterrichteten
Geschichte in einer Schule. Sie beklagten sich, dass ihr Gehalt nicht
reichte, Frau und Kinder zu
ernähren. In
der Sowjetzeit flohen viele Lamas in die Berge. Dort versteckten sie
alte buddhistische Manuskripte und
Kultgegenstände. In einem
solchen Bergdorf stiegen wir ab. Die Gerüchte missachtend. Diese
besagen, viele weißhäutige Besucher seien aus den Dörfern nie
zurückgekommen. Hier
lernten wir einen alten Tuwiner kennen.
Mit untypischen hellblauen Augen. Er
behütete die
heiligen Manuskripte. Er
soll über besondere Kräfte verfügen. Vielleicht stimmt es sogar.
Jedenfalls fieberte es, als er seine Hand auf meinen Kopf legte. Die
Buddhisten im Dorf sagten, es müsste so sein. So wird die Karma
gereinigt. Wie
dem auch sei, im Dorf wurden wir sehr gut empfangen. Als wir
kaum noch Geld hatten, bot uns ein Mädchen mit Namen
Baiirma an, umsonst
bei ihr zu wohnen. Selbst ging sie irgendwohin weg. Die Nachbarn kamen
jeden Morgen und brachten exotische, aber gutschmeckende Speisen. Das
gefiel uns. Wir wollten gar nicht zurück. Aber wir mussten. In Moskau brauchten wir mehrere Wochen, um uns wieder an eine ganz andere Lebensweise zu gewöhnen. An die Ellenbogenmentalität, Missgunst und alles andere, was normales Leben heißt. Aber wenn es uns ganz schlimm geht, denken wir an das zauberhaft schöne Tuwa. Und es wird uns leichter. Es gibt noch Oasen in dieser Welt. 25.7.04 |